Die Corona Krise schafft Unsicherheit, Desorientierung und verschiedenste Ausprägungen von Angst, die es uns schwer machen Neues zu lernen oder gar Entwicklungspotenziale zu erkennen und zu wachsen. Prozessarbeit nach Arnold Mindell eröffnet uns verschiedene Möglichkeiten, wie wir mit unseren Reaktionen umgehen können: Neues lernen und wachsen.
Hier findest Du verschiedene Möglichkeiten, was Du in Zeiten der Corona Krise tun kannst:
© Kirsten Wassermann
In der Reaktion verharren
Es besteht die Gefahr, in Reaktionen, wie Angst, Wut und Hilflosigkeit hängenzubleiben. Wir lassen uns von jeder neuen Nachricht überschwemmen und schalten auf Überlebensmodus.
Dabei ist der Überlebensmodus eine natürliche Reaktion des Körpers auf eine wahrgenommene Gefahr. Unter Druck stehen uns vorprogrammierte Reaktionen zur Verfügung:
Wut (Kampf) – Rückzug (Flucht) – Erstarrung.
Zweck dieser Reaktionen ist das Überleben des Körpers in gefährlichen Situationen.
Was vielleicht nicht so klar ersichtlich ist, dass diese Überlebensreaktionen die Grundlage von eskalierenden Konflikten, erhöhten Suchtendenzen und anhaltendem Stress in der aktuellen Situation sind. Wir fühlen uns zuhause in die Enge getrieben. Aus Angst vor Ansteckung lesen wir jede neue Information ohne zu reflektieren. Wir kaufen und horten so viel es geht, unabhängig davon, was wir benötigen. Es fällt uns schwer klar zu denken und wir rasten bei jeder Kleinigkeit aus oder fühlen uns mit allem überfordert. – Unsere unterbewussten Überlebenszentren im Gehirn übernehmen die Kontrolle über das bewusste rationale Denken. Wir reagieren eher aus dem Instinkt heraus. Fachlich ausgedrückt übernehmen die Amygdalla, das Kleinhirn und der Hirnstamm, die für unsere automatischen unbewussten Reaktionen auf Gefahr verantwortlich sind, die Kontrolle. Die Hirnareale für bewusstes Denken und Handeln sind dagegen verlangsamt.
Die Auswirkungen sind: Ein besonderer Alarmzustand, erhöhter Stress, (Über-)Aktivität oder Erstarrung und Anspannung. Das geht zu Lasten von Gelassenheit, sowie Denk- und Urteilsvermögen. Auch wenn unser Verstand, um dieses Muster weiß, braucht es einen aktiven Perspektivenwechsel.
Was kann helfen, nicht im Überlebensmodus stecken zu bleiben und in einen kreativen Lebensmodus zu kommen?
Neues Lernen
Um vom Opfer der Umstände zum selbstbestimmten Gestalter in der Corona Krise zu werden, brauchen wir Selbst-Mitgefühl und die Bereitschaft, Neues zu lernen. Hierfür müssen wir unsere Komfortzone verlassen.
Ein geregelter Tagesablauf hilft, Strukturen zu schaffen. Unseren Tag im Schalfanzug zu verbringen, kann auch mal sehr entspannend sein, auf Dauer schafft dies jedoch einen Zustand von Desinteresse und wir verlieren an Selbstrespekt. Statt zu warten, dass uns etwas oder jemand rettet, können wir damit beginnen, Gefühle zu zulassen und unsere Bedürfnisse zu erkennen – nicht nur Wut, Sehnsucht und Traurigkeit, sondern auch Freude, Mitgefühl und Liebe.
Wir können uns einen Retter oder eine mitfühlende und weise Gestalt vorstellen, die uns hilft, mit herausfordernden Momenten umzugehen. Hier eine kurze Übung aus der Prozessarbeit zum Ausprobieren:
- Stell Dir eine Situation oder einen Menschen vor, der dich stört, nervt, oder wütend macht.
- Nimm genau wahr, was du bemerkst; was du hörst, siehst, spürst? – und heiße deine Wahrnehmungen willkommen
- Nimm wahr, wo du interpretierst oder reagierst und stelle das für einen Moment zur Seite.
- Stelle dir eine mitfühlende, weise Gestalt, wie z. B. eine Figur aus einem Märchen oder Film oder einen ganz realen Menschen vor. Vertraue auf deine ersten Fantasien oder Erinnerungen.
- Stell dir vor, wie diese Figur an deiner Seite oder hinter dir steht und ganz für dich da ist, mitfühlend und unterstützend. Was verändert sich in Dir?
- Wie nimmst du nun das Verhalten deines Gegenübers und die Gesamtsituation wahr? Welche neuen Optionen oder Reaktionsmöglichkeiten tauchen auf?
Ein Perspektivenwechsel, bei dem sich die Krise als Chance, Neues zu lernen, entpuppt, ruft auch unsere innere Kritik auf den Plan. Wir werten uns selbst ab, stellen uns in Frage und denken, dass mit uns etwas nicht stimmt.
Hier sind verschiedene Möglichkeiten, deiner inneren Kritik zu begegnen:
- Verhandle mit dem inneren Kritiker. „Was du mir sagst, kann nützlich sein. Die Art und Weise, wie du es mir sagst, ist jedoch verletzend und herablassend und lässt mich schlecht über mich selbst denken und fühlen. Wenn du willst, dass ich mich ändere, gib mir Informationen, die für mich sinnvoll und nützlich sind, anstatt mich zu überlisten.“ – Erziehe deinen Kritiker!
- Wenn du die Angewohnheit hast, dich runterzumachen und „vernichtend“ mit dir umzugehen ohne einen Funken Mitgefühl, dann wende dich vom Kritiker ab. Lass ihn wissen, dass du ihn ab jetzt ignorierst. Dies hilft dabei, liebevoller mit uns selbst umzugehen.
- Reflektiere darüber, woher die innere Kritik kommt. Hattest du eine kritische Eltern- oder Lehrerfigur in deinem Leben? – Lass sie wissen, dass du sie nicht mehr brauchst.
- Erforsche das Anliegen deines Kritikers. Möglicherweise möchte „der Kritiker“ dich sogar unterstützen, dass du z.B. erfolgreich bist. Dann weise ihn darauf hin, dass es nicht hilfreich ist, dich abzuwerten. Denn wenn du dich schlecht fühlst, kannst du nicht erfolgreich sein.
- Manchmal können wir die Kritik auch nur hinter dem erahnen, was wir wahrnehmen. Dann versuche folgenden Dialog mit Dir selbst:
A: Ich bin deprimiert
B: Was genau erfährst du, dass du als „deprimiert“ bezeichnest?
A: Ich fühle mich von etwas niedergedrückt.
B: Erforsche das „Etwas“. Was genau, welche Kraft oder Macht, löst diesen Zustand des Niedergedrückt seins aus? Nimm sie genau wahr; folge einer Bewegung, nimm eine Gestalt darin wahr, lass diese Gestalt sich ausdrücken und erforsche ihre Weltsicht.
A: Grrr, ich bin ein großer Bär und lasse mich von nichts aufhalten! Alles, was sich mir entgegenstellt, trample ich nieder!
B: Wo in deinem Leben kannst du diese Kraft gut gebrauchen?
A: … ich könnte mehr meinen Bedürfnissen folgen und mich nicht von Kritik abhalten lassen…
Wir können so viel in dieser herausfordernden Zeit der Corona Krise lernen. Es ist unsere Wahl, ob wir uns den störenden Erfahrungen stellen wollen oder nicht. Wir entscheiden, ob wir bereit sind, uns dem Fremden und Unkontrollierbaren (auch in uns) zu stellen. Und wir können uns mehr Selbst-Achtung schenken.
Persönlich und gesellschaftlich wachsen
Das, was gerade in der Welt geschieht, verbindet uns alle über Ländergrenzen, sozialen Status, Berufsgruppen, Geschlecht u.s.w. hinweg. Wir sind Teil des „Corona-Feldes“. Neben allen schwierigen, traurigen und bedrohlichen Aspekten, die der Corona-Virus auslöst, kann es hilfreich sein, unser Bewusstsein zu erweitern. Wenn wir erkennen, dass alles mit allem verbunden ist – so wie es uns die moderne Physik bereits vermittelt – dann sind wir nicht nur „Opfer“ der Corona Krise. Stattdessen kann das verborgene Potential von Corona, zu einer Kraft und Qualität in jedem von uns werden.
Corona ist auch eine Kraft, die wir erforschen können, um neue Wege des Zusammenseins zu finden und unsere individuellen Potentiale zu erkennen und zu leben. Hierfür benötigen wir einen Perspektivenwechsel. Corona bedeutet die Krone. Sie bezeichnet auch den äußeren Kranz der Sonne.
Kürzlich habe ich während eines Seminars in Prozessarbeit zusammen mit den Teilnehmer*innen die Qualität des Corona-Virus näher erkundet. Wir haben damit gearbeitet, welche hilfreichen Potentiale wir in Corona erkennen können?
- eine Kraft, die über alle Grenzen hinweg wirkt
- etwas sehr kleines, dass eine große Wirkung erzielt
- eine Kraft, die uns alle verbindet
- etwas, dass uns alle treffen und tiefsitzende Themen an die Oberfläche bringen kann
Wenn du dir einen Moment die Eigenschaften von Corona vorstellst und dabei nicht auf die verheerende Wirkung des Virus auf uns Menschen fokussierst, kannst du möglicherweise Ressourcen in dir aktivieren, die dir vorher nicht bewusst waren. Und was wäre, wenn du dieses Potential mehr in dein Leben bringen würdest?
Beispiel einer Erfahrung:
Und dieser kleine Fratz (Virus) schafft es, dass sich bei jedem tief sitzende Themen zeigen, die unbedingt angesehen werden wollen! Ein Aspekt des Virus ist ja „Du siehst mich nicht, aber ich habe große Wirkung“, da stellt sich die Frage welche Aspekte jeder einzelne (bei sich?) nicht sieht oder sehen will, die eine große Wirkung haben…
(Noey K.)
Bewusster Rückzug als Chance zu wachsen
Auch im bewussten Rückzug aus dem Alltagstrott können wir neue Räume und Möglichkeiten in uns entdecken. Statt endlos in der Leistungsschleife festzuhängen, können wir uns die Zeit für Spaziergänge in der Natur nehmen; haben wir Raum zu reflektieren, was in unserem Leben wirklich eine Rolle spielt und wofür wir unsere Talente einsetzen wollen.
Das bedeutet nicht, dass die negativen Auswirkungen verschwinden, finanzielle Bedrohung ausbleibt oder wir unseren Job retten können, aber wir können uns möglicherweise lebendiger fühlen und das Wesentliche in unserem Leben erkennen.
Wir sind herausgefordert, uns neu auszurichten, durch ungewohnte Erfahrungen ein neues Vertrauen aufzubauen, kreativ zu werden und unsere Freude am Leben zu finden. Es gilt mehr in der Gegenwart zu leben, unsere Privilegien zu erkennen und für uns und andere zu nutzen. Indem wir echtes Selbst-Mitgefühl entwickeln, können wir eine neue Beziehung zu uns selbst und der Welt finden und wertschätzend mit anderen umgehen.
Rapunzel, ein Weg aus der Corona Krise
Der Walt Disney Film „Rapunzel – Neu Verföhnt“ zeigt uns symbolisch einen Weg:
Jahrelang eingesperrt in einem Turm, wäscht, putzt, strickt und kocht Rapunzel. Aber sie ist auch kreativ – malt, musiziert und spricht mit Tieren. Sie hält durch in ihrem einsamen Leben. Kontakt hat Rapunzel nur zur Hexe Gothel, die angibt, sie vor der Außenwelt zu schützen. Die Außenwelt ist das Königreich Corona, eine bunte Märchenwelt, die Rapunzel von ihrem Turm aus der Ferne beobachtet. Als Rapunzel ihrer Isolation entkommt, entdeckt sie, dass sie die verlorene Prinzessin Coronas ist und die magische Wirkung nicht in den Haaren, sondern in ihr selbst liegt.
Das Märchen hat mich schon in meiner Kindheit fasziniert. In der Filmversion verbindet Rapunzel Schlagfertigkeit, Neugier und Zielstrebigkeit mit einem verniedlichten Aussehen und dem typischen Disney Klischee eines stereotypen Frauenbildes – abwartend, geduldig und aufopferungsvoll. Aber sie schickt ihre männlichen Gegner, auch gerne mal mit der Bratpfanne ins Reich der Träume oder fesselt den Eindringling mit ihren Haaren an einen Stuhl.
Dieser offensichtliche Widerspruch wird im Film nicht weiter thematisiert. Er weist jedoch auf eine Spannung hin, die sicher viele Frauen kennen:
- souverän und selbstsicher auftreten, im Job performen und den Haushalt schmeißen …
- innere und äußere Kritik durch ein stereotypes Frauenbild erleben
Gerade jetzt, wo wir alle „ans Haus gefesselt sind“, können wir die Chance nutzen, mit traditionellen Rollenverteilungen aufzuräumen und Bewusstsein in die Gender-Problematik zu bringen. Die Geschichte von Rapunzel zeigt uns auch, wie wir durchhalten und uns mit unseren Talenten und „magischen“ Kräften verbinden können, um zu wachsen und etwas in der Welt zu bewirken.
Privilegien erkennen und nutzen
Homeoffice, der Rückzug in die eigenen vier Wände (mit Garten), Lohnfortzahlungen, staatliche finanzielle Unterstützung, Essen vom Lieferservice sind Privilegien! Bevor wir uns beschweren, sollten wir unsere Wahrnehmung über die Auswirkungen von Rang und Statusunterschieden in unserer Gesellschaft schärfen, die einmal mehr durch die Corona Krise verdeutlicht werden. Sie betreffen die Schwächsten unter uns mehr als die Privilegierten.
Berufsgruppen, wie z.B. Pflegekräfte, Kassierer im Supermarkt, Busfahrer oder Mitarbeiter im Lieferservice setzen sich und damit auch ihre Familien täglich der erhöhten Ansteckungsgefahr aus – mit geringer Bezahlung ohne zusätzliche Gefahrenzulage, Überstundenausgleich oder anderen Zusatzleistungen. Dienstleistungsbetriebe, wie Frisöre, Handwerker und andere Kleinunternehmen sind geschlossen. Sie haben keine Chance ihren Unterhalt online zu verdienen. Obdachlose können sich nicht in ihr zuhause zurückziehen oder täglich mehrmals die Hände waschen.
Die soziale Isolation ist für Obdachlose besonders hart. Ihnen fehlt ein Rückzugsraum, auch im Falle einer Quarantäne. Gleichzeitig sind sie eine besonders gefährdete Gruppe. Viele von ihnen haben schwere gesundheitliche Probleme, aber kaum Zugang zum Versorgungssystem. Anlaufstellen wurden geschlossen oder die Menschen müssen dort auf engstem Raum schlafen.
Wie können wir unsere Privilegien während der Corona Krise hilfreich nutzen?
Glücklicherweise engagieren sich mehr und mehr Menschen während der Corona Krise in Hilfsprojekten. Beispielsweise hat in Hamburg der Wirt einer berühmt-berüchtigten Kneipe kurzerhand eine Suppenküche für Wohnungslose, Drogenabhängige und andere Bedürftige aus dem Rotlichtviertel eröffnet. Ehrenamtliche Mitarbeiter schließen an vielen Orten eine wichtige Lücke in der Versorgung von Menschen aus benachteiligten oder gefährdeten Gruppen. Auch eine Geldspende an Hilfsorganisationen kann unterstützen …
Es ist verständlich, dass der Schutz der eigenen Gesundheit an erster Stelle steht. Wir alle müssen unseren Alltag drastisch einschränken, um das Voranschreiten der Pandemie zu verlangsamen und unsere Mitmenschen zu schützen. Aber Interesse an unseren Mitmenschen – eine freundliche Geste, ein nettes Wort, – können bereits etwas bewirken. Auch ein offenes Ohr für diejenigen unter uns, die sich einsam fühlen oder Angst haben, bringt uns näher zusammen.
Die aktuelle Corona Krise hat dankenswerterweise die ganze Welt auf beispiellose Weise mobilisiert. Sie kann uns dabei helfen, größeres Bewusstsein von Diversität zu erlangen, unsere Privilegien zu erkennen und näher zusammenzurücken. Schlussendlich sitzen wir alle im gleichen Boot …
Illustration von Ramon Teja
Ich wünsche Dir, dass Du deine speziellen Talente entdeckst und diese in die Welt bringst.